
Konzepte dagegen
Für die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus ist das Konzept der Toleranz mit seiner Schutzfunktion in Staat und Gesellschaft zentral. Doch wird Toleranz über die Jahrhunderte unterschiedlich interpretiert und verstanden. Hierzu einige Überlegungen zur Änderung des Begriffsverständnisses und zu dessen spezifischen Auswirkungen im Zusammenhang mit Rassismus in der Schweiz.Toleranz bezog sich ursprünglich auf religiöse Belange und wird seit dem Humanismus (14. bis 16. Jahrhundert) auch auf politische und staatsrechtliche Zusammenhänge angewandt. Das Konzept der Toleranz umfasst einen allgemein-rechtlichen und einen individuell-ethischen Aspekt:
- Auf der einen Seite sollen allgemein geltende gesellschaftliche und politische Normen und Werte gesichert werden, aber auch Andersdenkende und -lebende vor Diskriminierung geschützt werden. Im Politischen setzt dies nebst Trennung von Staat und Religion die allgemeinen Menschenrechte voraus.
- Auf der individuellen Ebene geht es hingegen darum, die Heterogenität von Überzeugungen, Anschauungen und Traditionen der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner nicht indifferent zu akzeptieren, sondern aktiv wahrzunehmen und anzuerkennen. Gefragt ist mit anderen Worten eine aktive Toleranz, die auch Antirassismus als Element enthält.
Gerade im schulischen Bereich führt ein Dialog oft zu nachhaltigeren Lösungen als das Beharren auf starren Regelungen. Was tun, wenn streng gläubige Eltern ein Dispensationsgesuch in Bezug auf Schullager, Schwimm- oder Sexualkundeunterricht für ihre Tochter stellen? Für die Kinder ist es wichtig, sowohl an der Gesellschaft mit all ihren Optionen teilhaben zu können, andrerseits der eigenen Kultur und den eigenen Eltern nicht entfremdet zu werden. Eine starre Regelung kann zu Konflikten führen, die für die Kinder schwer auszuhalten sind. Im Dialog lassen sich oft fallgerechte Lösungen finden, z.B. wenn die Dispensation vom Schwimmunterricht in der öffentlichen Schule kompensiert wird durch die Verpflichtung der Eltern, dass ihre Kinder anderweitig Schwimmen lernen.
Klar sollten aber Dispensationen die Ausnahme bleiben (vgl. z.B. Wyttenbach 2008)
In der Schweiz besteht bei Toleranz im Zusammenhang mit dem Begriff Rassismus zudem ein spezifisches Problem. Das Wort bereitet hier Mühe, weil ein vermeintlicher schweizerischer Sonderfall vorliegt: In der Schweiz wurde Rassismus (meist verstanden als "Hautfarbenrassismus") von der Mehrheit der Bevölkerung über lange Zeit nicht als ein sie direkt betreffendes Problem verstanden. Die Schweiz habe im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, so wird argumentiert, keine Vergangenheit als Kolonialmacht. In den 60er-/70er-Jahren wurde die Diskriminierung von ausländischen Arbeitskräften vor allem als "Fremdenfeindlichkeit" bezeichnet, obwohl in den Überfremdungs-Initiativen bereits früh eine klar kulturalistische und essenzialistische Argumentation verwendet wurde ("Eigenschaften sind angeboren und unveränderbar"). Die Rechtspopulisten forderten seinerzeit mehrmals eine radikale Einwanderungsbeschränkung für Migrierende aus Italien, Spanien und Griechenland – mit ähnlichen Argumenten, wie sie sie heute gegen türkische oder afrikanische Migrantinnen und Migranten anführen.
Die Anwendung des Begriffs "Rassismus" auf schweizerische Verhältnisse kam so erst in den 80er-Jahren dadurch auf, dass eine grössere Zahl von Menschen mit einer "anderen Hautfarbe" in die Schweiz immigrierte. Erst seit jener Zeit wird auch "Rassismus in der Schweiz" als Problem wahrgenommen.
Zudem ist der Rassismusbegriff in den verschiedenen Schweizer Sprachregionen unterschiedlich besetzt. So wird er in der Deutschschweiz vor allem mit der nationalsozialistischen Rassenpolitik Deutschlands in Verbindung gebracht. Daher lehnen die meisten Menschen in der Deutschschweiz ab, dass ein derartiges Verständnis von Rasse bzw. Rassismus in irgendeiner Weise auf die schweizerischen Verhältnisse zutrifft. Der Begriff wird auch heute noch nur zögerlich verwendet – einerseits, weil er die faschistischen Gräueltaten verharmlose, andererseits aber auch, weil der Begriff mit der Geschichte des Landes nichts zu tun habe. Ganz anders in der lateinischen Schweiz – hier wird der Begriff ‚race/racisme" bzw. "razza/razzismo" wie im Englischen viel breiter gefasst und vor allem mit der Kolonialpolitik bzw. seiner Bekämpfung in Zusammenhang gebracht. Damit ist der Begriff aber für die antirassistischen Akteure auf gesamtschweizerischer Ebene schwer anwendbar.
Das relativ vage und individualisierte Toleranzkonzept birgt so die Gefahr, dass Rassismus in der Gesellschaft nicht direkt angesprochen werden kann. Hierzu folgende Bemerkungen:
- Fehlende theoretische und konzeptionelle Aufarbeitung haben eine Unbestimmtheit und Inkohärenz der Vorstellung von Rassismus zur Folge. So liegt der politische Anknüpfungspunkt oftmals bei der Migrations- und Asylpolitik, dem vermeintlichen Startpunkt der Problematik des Rassismus. Damit wird nicht nur einem Teil der potenziellen Opfer gewissermassen eine Mitverantwortung am schweizerischen Rassismus zugewiesen und der politisch-historische Kontext ausgeblendet. Diese Herangehensweise führt auch dazu, dass die Aufmerksamkeit mehrheitlich auf eine "eben erst" in die Schweiz immigrierte Bevölkerungsgruppe gerichtet wird, die nicht über die schweizerische Staatsbürgerschaft verfügt. Damit werden Schweizerinnen und Schweizer, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrer "Ethnizität" diskriminiert werden, als Opfer von Rassismus oftmals vernachlässigt (Gerber 2003:481ff.).
- Toleranz wird inzwischen auch von anderer Seite gefordert, beispielsweise im neorassistischen Diskurs, der heute sehr wohl ein enthierarchisiertes Weltbild propagiert – nach dem Motto: "Alle sind gleich wertvoll." Nur verknüpft dieser Diskurs das genannte Prinzip mit der Forderung, dass Menschen da bleiben sollen, wo sie sind, respektive dahin gehen sollten, wo sie hergekommen sind. In einen Nationalstaat gehöre nur das angestammte Kollektiv, in das Menschen hineingeboren wurden, ansonsten verkümmerten diese, würden meist geisteskrank, apathisch oder kriminell. Dieses Kollektiv nennen die neuen Rassisten Kultur, welche von unterschiedlichen Sitten und Gebräuchen geprägt sei. KritikerInnen sprechen in diesem Zusammenhang deshalb von Kulturalismus (siehe beispielsweise Magiros 1995).
"Je mehr Bürger[Innen] mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Held[Innen] wird es einmal brauchen."
Franca Magnani, Journalistin
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